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Carola Schaal

Lesedauer 3 Min.

Ich treffe Entscheidungen immer aus dem Bauch heraus. Der Kopf muss hinterher laufen.

Eine Probebühne im Karoviertel. Holzfußboden, verhängte Fenster und an der Wand ein Klavier. Heinrich Horwitz bespricht mit Carola die Szene. Mit dem Einsetzen der Musik des Klaviers wälzen sich Körper ineinander verknotet durch den Raum. Auch wenn die Szenerie erstmal seltsam, wenn nicht sogar grotesk anmutet spürt man dennoch sofort eine Energie. Sie scheint mit jeder rollenden verknoteten Bewegung der Körper den Raum zu füllen.

Diese Energie geht auch von Carola aus. Selbstbewußt, "frech" und humorvoll erklärt uns die Performerin und Klarinettistin, was geprobt wird. Unsere leichte Verstörung nimmt sie wahr, findet es aber gut. Denn auch das ist eine Reaktion. Etwas, das performative Kunst auslösen kann und darf.

hvv switch: Wie würdest du dich beschreiben?

Carola: Ich bin ein extrem intuitiver Mensch, treffe Entscheidungen immer aus dem Bauch heraus und der Kopf muss hinterher laufen. Mein Kopf geht nie voran. Ich habe mich auch noch nie in Formen oder Konventionen pressen lassen, schon als Kind nicht. Aber ich habe meine Entscheidungen konsequent durchgezogen. Ich werde mir zum Beispiel niemals das Rauchen verbieten lassen, obwohl das sicher für eine Klarinettistin und gelegentliche Sängerin sehr ungewöhnlich ist.

hvv switch: Du ist in der Nähe von Tübingen am Rande eines kleines Dorfes aufgewachsen. Wie war das?

Carola: Ich komme aus einem handwerklichen Background, nicht unbedingt ein intellektuelles Umfeld. Ich habe immer viele Fragen gestellt, die aber nur bedingt beantwortet wurden. Zusätzlich zu Sport und Bewegung wollte mein Kopf gefüttert werden. Ich entsprach dabei nicht den geltenden Konventionen eines dörflichen Umfeldes. Das war auch ein Leidensweg, aber ich war ein sehr konsequentes Kind.

Für meine Eltern war es schon seltsam, dass ich unbedingt auf das Gymnasium wollte und auch eine Empfehlung dafür hatte. Die sagten immer: Realschule ist doch toll. Danach kannst du ja weiter gehen. Und ich sagte: Nein, ich geh auf das Gymnasium! Ich habe Essen und Trinken verweigert, bis sie mich ließen. Ich habe es geliebt, zur Schule zu gehen. Diese 45 Minuten Pakete Gratis-Wissen haben mich sehr befriedigt. Ich war keine Streberin aber ich war super interessiert.

Aus dieser Wahrnehmung heraus haben sie mich eben auch gelassen, als ich sagte, dass ich Musik, Klarinette studieren will und gesagt: OK, mach das einfach. Das finde ich die coolste Reaktion. Obwohl sie bis heute nicht immer genau nachvollziehen können was ich mache.

Wenn Daddy noch im Blaumann ist, dann ist das eben so und ich freue mich, ihm danach den Intendanten vorzustellen. Im Blaumann, und zu sagen: "Das ist mein Papa".

Heute sind sie interessiert, sie kommen, schauen sich Konzerte und Performances an und trauen sich, Fragen zu stellen. Ich habe ihnen inzwischen die ganzen Benimmregeln im Konzertsaal ausgetrieben. Und sie haben dadurch ihre Scheu verloren und gelernt, dass Professoren, Chefärzte etc auch nur Menschen sind, mit denen man ganz normal reden kann.

hvv switch: Was hat dich dazu bewogen, Klarinette zu lernen?

Carola: Es wurde in der Grundschule kostenlos musikalische Früherziehung angeboten. Meine Mutter fragte, ob ich Blockflöte lernen wollte und ich sagte ja. Da bin ich wahnsinnig gerne hingerannt und habe gerne geübt.

In unserm Dorf gab es einen Musikverein und da habe ich zufällig Klarinette gehört und ab dem Tag wollte ich Klarinette lernen. Papa hat mir kürzlich erzählt, das er mich als kleines Kind daraufhin nochmals fragte, ob ich sicher sei, dass ich Klarinette lernen will und ich soll geantwortet haben: Ich bin mir verdammt sicher! Dass das dann eine Lebensaufgabe für mich werden würde konnte keine ahnen. Er gab kürzlich auch zu, dass sie genervt waren, weil ich so viel geübte habe.

Insgesamt muss ich sagen, dass es ein Glück ist, dass ich in meinen Beruf gelandet bin, auch wenn es früher teilweise brutal hart war, nicht den gängigen Konventionen in unserem Dorf zu entsprechen.

hvv switch: Du hast mit Musik die verschiedenen Laute des angrenzenden Waldes nachgeahmt?

Carola: Ja, und das ist heute immer noch so. Ich habe schon als Kind viel experimentiert, zum Beispiel nur mit dem Mundstück verschiedene Vögel nachgemacht. Oder Luftgeräusche.

hvv switch: Das Schwäbische hört man heute gar nicht mehr bei dir, hast du dir das in Hamburg abgewöhnt?

Carola: Nein, auch das habe ich als Kind verweigert. Meine Eltern schwäbeln, meine Schwester und ich sprechen Hochdeutsch. Das war und ist natürlich für meine Eltern irritierend. Mein Daddy kann sich aber tatsächlich nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die ihn nicht verstehen. Die meisten aus meinem Ensemble verstehen nicht, was er sagt, aber es ist wahnsinnig witzig. Speziell die Kommunikation zwischen unserem Schlagzeuger, einem US- Amerikaner, und meinem Daddy ist wahnsinnig lustig. Die lachen sich tot, aber es versteht keiner, was der andere sagt.

hvv switch: Was ist für dich Freiheit?

Carola: Freiheit bedeutet, dass ich selber Entscheidungen treffen kann. Das ist die größte Freiheit, die es gibt. Ein krasses Privileg. Und da geht dann bei mir sofort Demut und Dankbarkeit mit einher. Das habe ich schon immer versucht einzufordern. Es hat einen Sinn, dass ich heute beruflich da bin, wo ich bin. Ich denke, ich hätte in jedem anderen Beruf tierische Probleme. Ein Bürojob wäre ein Desaster. Auch an Institutionen wie der Musikhochschule hätte ich Schwierigkeiten. Ich muss frei arbeiten, um mich zu entfalten.

hvv switch: Was waren deine größten Rückschläge?

Carola: Ein Musikstudium ist immer mit Leiden verbunden. Ich habe sehr viel gelitten. Extrem viel! Du mußt dir vorstellen, dass du andauernd mit dir selber konfrontiert bist. Du bist alleine im Raum mit Notenständer, Noten und Instrument. Es ist ein non-verbales Moment mit dem Instrument, und die Musik und das Instrument spiegeln einen einfach total krass. Wenn du da nicht im Reinen mit dir bist, leidest du. Wenn da etwas im Argen ist, dann arbeitet das Instrument auch gegen einen. Es in eine Spaßgesellschaft, in der man sich dauernd nur ablenkt und ablenken soll, mit sich selber auszuhalten ist wirklich richtig hart. Brutal! Es gab viele Tränen bei mir. Es gibt schon auch einen Grund, warum so viele Musiker trinken oder Drogen nehmen. Viele scheitern daran, dass sie es nicht schaffen, es mit sich auszuhalten. Oder sie sind so genial, dass sie trotz Alkohol und Drogeneinfluss Höchstleistungen bringen. Oder man findet einen Weg, mit sich selber klar zu kommen. Für mich war im Bezug auf Rückschläge nie der Druck von außen entscheidend. Den Druck mache ich mir selber, ich bin extrem streng mit mir. Bei der Arbeit bin ich Perfektionistin.

hvv switch: Gab es einen Moment, in dem du aufgeben wolltest?

Carola: Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, die Klarinette wegzulegen und zu sagen, ich höre auf damit. Das war mein Anker. Musik war und ist meine Welt. Wobei es tatsächlich der Zugang zu der neuen Musik war. Da habe ich mich immer wohl gefühlt. Mit diesem ganzen Klassikbetrieb hätte ich vielleicht doch irgendwann aufgehört.

hvv switch: Hast du ein Motto?

Carola: Im letzten Studienjahr habe ich mir vorgenommen, drei Jahre lang keinen festen Vertrag zu unterschreiben und es frei zu probieren. Das habe ich, trotz eines guten Jobangebotes als Lehrerin an der Musikschule, durchgezogen. Mein Motto ist „Ganz oder gar nicht!“.

Ich gehe immer meinen Wünschen nach, ohne Angst vor der Veränderung. Ich halte mir nie ein Hintertürchen auf.

hvv switch: Was hat dich nach Hamburg gebracht?

Carola: Ich bin wegen meines Lehrers hierher gekommen. Bei diesem Professor habe ich auch mein Masterstudium beendet. Es ist wirklich so, dass Musikstudenten da hingehen, wo der Professor ist, bei dem sie studieren wollen. Wenn sie genommen werden und einen Platz bekommen.

hvv switch: Wie empfindest du Hamburg im Vergleich zu deiner ursprünglichen Herkunft?

Carola: Ich wollte ganz schnell aus diesem Dorf heraus und aus Tübingen. Das war mir alles viel zu klein. Ich musste ganz schnell weg. Zuerst nach Darmstadt, dann Düsseldorf und dann Hamburg.

hvv switch: Im Gegensatz zu deinem Tübinger Dorf: Wie empfindest du die Geräusche der Großstadt Hamburg? Eher Musik oder Lärm?

Carola: Ich kann das schon abstrahieren. Ich finde es spannend, Geräuschkulissen auseinander zu nehmen. Wenn ganz viele Klänge sich überlagern und so ein „Noise-Sound“ entsteht, das finde ich super. Damit arbeiten ja auch viele Komponisten. Ich habe lange in einer Parterre Wohnung an der Max-Brauer-Allee gewohnt, dass wurde mir allerdings irgendwann zu viel. Dann bin ich ganz raus an den Waldrand nach Bergedorf neben einen Friedhof gezogen, dass war dann auch zu krass. Am besten ist eine Mischung aus Beidem.

hvv switch: Du hast in Hamburg auch länger zur Untermiete bei einem reichen Kunstmäzen und seiner Frau gewohnt?

Carola: Dieses Paar ist für mich Hamburg. Herzblut-Hamburger. Kennengelernt habe ich sie vor vielen Jahren. Der damalige Pastor vom Michel meinte zu mir „Frau Schaal, so wie ich Sie gerade wahrnehme ohne Sie wirklich zu kennen, möchte ich Sie bitten mit jemandem in Kontakt zu treten". Die umgehende Kontaktaufnahme ergab, dass er gerade sein erstes Konzert organisiert und mich dann einlud, dort zu spielen.

Unser Verhältnis ist sehr eng mittlerweile. Das sind schon wichtige Bezugspersonen für mich in Hamburg, die ich oft um Rat frage. Er ist eine Art Mentor für mich. Eigentlich hat man bei solchen Menschen ja direkt ein Klischee vor Augen: Alter, feiner Hamburger Geld-Adel. Aber diese beiden brechen dieses Klischee sofort wieder, sind extrem offen für alles. Ich habe immer mal wieder bei beiden in der Anliegerwohnung gewohnt. Dort habe ich schon etliche Stunden geübt. Körper und Finger aufwärmen kombiniert auch mit dem Aufwärmen der Stimme.

hvv switch: Was ist das Decoder Ensemble und was bedeutet es für dich?

Carola: Das Ensemble hat einen klaren Bandcharakter. Die Stimme spielt eine Rolle und wir spielen verstärkt. Die Grundlage des Ensembles ist eine elektronische Zither. Es gibt einen Sounddesigner, alle elektronischen Geräte werden verstärkt und wir machen vor den Auftritten Soundchecks. Dazu arbeiten wir primär mit der wirklich jungen Generation von Komponisten, die im multimedialen Bereich tätig sind. Es hat sich inzwischen ein charakteristischer Sound etabliert. Decoder hat einen Wiedererkennungswert.

Wir arbeiten auch viel mit Projektionen. Ich trage zum Beispiel einen weißen Overall und halte die Klarinette nur in der Hand. Dann werde ich Klarinette spielend auf mich selber projeziert. Dazu ist mir wichtig, dass wir alle sechs die gleiche Verantwortung tragen für den kreativen Inhalt, also auch gleichberechtigt sind. Wir entscheiden zusammen die Programmauswahl, mit welchen Komponisten oder Gastkünstlern wir zusammen arbeiten wollen. Wir streiten sehr selten über Inhalte, wir sind uns fast immer einig, was auf die Bühne muss, was einfach da raus muss. Manchmal benutze ich außer der Klarinette auch meine Stimme, aber nicht auf die klassische Art.

Ich sehe mich als „growlende Prinzessin“. Was natürlich aber nicht heißen soll, das ich eine Diva bin. Ein Diven- Dasein ist sinnlos.

hvv switch: Bedeutet es einen großen Aufwand, ein performatives Konzert zu inszenieren?

Carola: Es ist ein unfassbar großer Aufwand. Es ist wichtig, dass durch die Inszenierung ein roter Faden entsteht, sich ein Thema vermittelt, durch das man abgeholt, woanders hingeführt und auch mal verstört wird. Bei einem Konzert in der Elphi bespielten wir auch das Foyer, den Flur, den Fahrstuhl. Hier kommt der Zuschauer hinein, um in den Kaispeicher zu fahren und wenn die Türen aufgehen, dann liege ich in dem mit schwarzem Teppich ausgekleidetem Fahrstuhl auf dem Rücken und spiele Klarinette. Das geht so die erste halbe Stunde, bis alle da sind, dann wechsele ich woanders hin. Zwischendurch wird auf der anderen Elbseite ein großes Feuerwerk gestartet, welches in den Kaispeicher übertragen wird usw. Ein fester, musikalischer Bestanteil ist an dem Abend „die Kunst der Fuge“.

hvv switch: Was genau bedeutet performative Kunst im Gegensatz zur klassischen Herangehensweise?

Carola: Bei einem klassischen Konzert ist der Part des jeweiligen Instrumentes genau vorgegeben. Man soll sich möglichst nicht so viel einbringen oder gar improvisieren. Ich wollte aber nicht nur reproduzieren, sondern auch selbst kreativ mitwirken. Ein wichtiger Part bei der performativen Kunst die Improvisation. Jeder Auftritt ist hier anders. Außerdem gibt es bei klassischen Konzerten keine Gleichberechtigung. Meistens ist einer der Leiter.

Ich mag keine Wiederholungen.

hvv switch: Ihr seid mit dem Decoder Ensemble weltweit auf Tour, was bedeutet Hamburg hierbei?

Carola: Hamburg ist die Brutstätte für neue Projekte: Alles, womit wir auf Tour gehen, heben wir hier aus der Taufe.

hvv switch: Hast du einen Lieblingsort in Hamburg?

Carola: Die Boberger Dünen, das ist ein Rückzugsort für mich. Da bin ich oft rausgefahren, auch im Winter. Die sind zu jeder Jahreszeit magisch. Bei diesem ganzen Feuerwerk in meinem Schädel brauche ich diese Stille und das Alleinsein. Das nur mit mir Sein. Viele Menschen können gar nicht gut mit sich alleine sein, das kann ich ganz wunderbar. Es sind viele Kontraste in mir: Ich bin sehr viel in Bewegung, aber ich brauche auch dringend diese Ruhemomente. Es gibt ja solche Hamsterphasen, wo ich in einem Rad drin bin. Da muss mich auch schon mal jemand dran erinnern, aber definitiv brauche ich diese Ruhephasen. Und ich sehne mich auch nach einer Weile, die lang ist! Langweile ist das Größte auf der Welt! Ich versuche mir die zu schaffen. Das ist eigentlich die größte Quelle für uns.

Ich reduziere gerade Dinge und habe Sachen abgesagt, weil ich diese Weile, die lang ist, genießen möchte. Ein voller Terminkalender schränkt ja auch total ein. Und Kreativität entsteht auch nicht, wenn man nur unterwegs ist. Ich sage ganz bewusst Auftritte ab, wo ich bestehende Stücke wiederholen würde. Ich bin gerade an eigenen und neuen Sachen interessiert.

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